5. Vorlesung

Gefährdeter Zusammenhalt? Polarisierungs- und Spaltungstendenzen in Deutschland

Gesellschaftlicher Zusammenhalt wird von persönlichen und gemeinschaftlichen Vorstellungen über unser gesellschaftliches Zusammenleben geprägt. Dies äußert sich in Form von unterschiedlichsten Werthaltungen zu Fragen der Zuwanderung und Multikulturalismus, der Anerkennung von neuen und vielfältigen Lebensentwürfen, Ansichten zu Geschlechtergerechtigkeit oder dem Klimawandel. Ist unser gesellschaftlicher Zusammenhalt aufgrund entgegengesetzter wertbezogener Vorstellungen gefährdet oder vollzieht sich gar eine Spaltung? Welche Zusammenhänge von Gesellschaftsbildern und politischen Einstellungen sind erkennbar, insbesondere in Ostdeutschland und in Bezug auf die Identifikation mit rechtspopulistischen Positionen und Parteien? Und welche Folgen hat dies für unseren gesellschaftlichen Umgang mit den Herausforderungen dieser Zeit?

Dozentin

M.A. Clara Dilger

Universität Leipzig
Institut für Soziologie und Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ)

Zur Person

Die Soziologin ist Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt "Kulturelle und sozioökonomische Spaltung und Rechtspopulismus in der deutschen Gesellschaft" am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) und am Institut für Soziologie der Universität Leipzig.

Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der politischen Soziologie, mit besonderem Fokus auf die Ursachen für den Erfolg rechtspopulistischer Parteien und die dieser Wahlentscheidung zugrundeliegenden Einstellungen der Wähler:innen.

Das war die fünfte Vorlesung

Zwei für den Zugang zum Thema spannende Fragen stellte die Leipziger Soziologin Clara Dilger dem Publikum gleich zu Beginn: „Aus dem Bauch heraus: Wer hat das Gefühl, dass wir in einer gespaltenen Gesellschaft leben?“ Rund die Hälfte der Zuhörenden hob die Hand. „Wer von Ihnen fand diese Frage schwierig zu beantworten?“ Nicht weniger meldeten sich. Und tatsächlich ist es schwierig, die Begriffe Spaltung oder ihr Gegenteil Zusammenhalt zu definieren oder Kriterien dafür zu finden, in welchem der Zustände unsere Gesellschaft sich befindet.

Die Wissenschaftlerin näherte sich über die Themenkontexte, in denen die Begriffe vor allem medial auftauchen: Klima-Aktivismus, Ost-West, Corona, Heizungstausch, ... – alles meist negativ konnotiert. Politik habe aber inzwischen erkannt, dass für den Zusammenhalt etwas getan werden muss. In Sachsen gibt es ein „Ministerium für soziales und gesellschaftlichen Zusammenhalt“. Im Gegensatz zu den Schlagzeilen gehe es hier positiv konnotiert um Zusammenhalt zum Beispiel über ehrenamtliches Engagement.

Als theoretisches Modell zur Untersuchung und Erklärung der sozialen Phänomene, an den eine soziale Spaltung erkennbar sein kann, stellte Dilger die Cleavage-Theorie der sozialen Spaltungslinien vor.

Im weiteren Verlauf identifizierte sie neben den klassischen Konfliktlinien des Modells einen neuen potenzielle Cleavage: den Konflikt um die Offenheit von Gesellschaften nach Innen und Außen, also die Spaltung zwischen Offenheit, Pluralismus auf der einen und Geschlossenheit, ethnischer Homogenität, Traditionalistisch auf der anderen Seite der Linie. Das FGZ hat dazu eigenes Befragungsinstrument zur Messung der ideologischen Ebene dieser Spaltung entwickelt.

Dilger nahm die Zuhörenden mit in die empirische Arbeit über repräsentative Befragungen mit und stellte viele aktuelle Ergebnisse daraus vor. Dilgers Antwort auf die Frage „Leben wir in einer gespaltenen Gesellschaft?“ sei ein „klares soziologisches Jein“. Spaltungen seien partiell und feststellbar, je nach dem, welchen Ausschnitt man betrachtet oder welche Methode man anwendet. Die partielle Spaltung äußere sich deutlich in Protest, Wahlverhalten und zum Teil auch in Radikalisierung. Aber nicht zu vergessen sei, dass nicht nur ein Problem die demokratische Verarbeitung von Konflikten sei, sondern auch eine Triebkraft für diese Verarbeitung, wie Dilger am Beispiel der Klimaproteste zeigte.

Text/Fotos: Helmut Hammer, 05.06.2023, HSMW-News

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